Tschornobyl – Wikipedia

Tschornobyl
Чорнобиль
Wappen von Tschornobyl
Tschornobyl (Ukraine)
Tschornobyl (Ukraine)
Tschornobyl
Basisdaten
Oblast: Oblast Kiew
Rajon: Kreisfreie Stadt
Höhe: 140 m
Fläche: 25 km²
Einwohner: 0 (1. Januar 2022)
Bevölkerungsdichte: 0 Einwohner je km²
Postleitzahlen: 07200
Vorwahl: +380 4593
Geographische Lage: 51° 16′ N, 30° 14′ OKoordinaten: 51° 16′ 25″ N, 30° 13′ 35″ O
KATOTTH: UA32000000020050699
KOATUU: 3222010500
Verwaltungsgliederung: 1 Stadt
Adresse: вул. Івана Проскури буд. 7
07201 смт. Іванків
Statistische Informationen
Tschornobyl (Oblast Kiew)
Tschornobyl (Oblast Kiew)
Tschornobyl
i1

Tschornobyl (ukrainisch Чорнобиль [tʃɔrˈnɔbɪʎ], bekannter als Tschernobyl, Transkription von russisch Черно́быль [tʃɛrˈnɔbɨl]) ist eine Stadt im Norden der Ukraine in der Oblast Kiew.

Trompetender Engel, Gedächtnisstätte auf dem Friedhof der Liquidatoren in Tschornobyl

Die Stadt wurde ab dem 2. Mai 1986, eine Woche nach dem Nuklearunfall im 18 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Tschernobyl, der als Nuklearkatastrophe von Tschernobyl bekannt wurde, aufgrund radioaktiver Kontamination evakuiert.[1]

Tschornobyl liegt seitdem innerhalb der 30-km-Sperrzone, jedoch außerhalb der inneren 10-km-Sperrzone, sodass später viele Gebäude in der Stadt renoviert wurden, um als Unterkünfte für die Arbeiter und Ingenieure des ehemaligen Kraftwerkparks Prypjat, Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute zu dienen. In der Stadt, die sich, im Gegensatz zum benachbarten Prypjat, in einem guten Zustand befindet, gibt es auch ein Hotel. Im Umland und im Stadtgebiet von Tschornobyl, das für eine dauerhafte Besiedlung nicht freigegeben ist, leben heute illegal, jedoch von den Behörden toleriert,[2] rund 700 (von einst 14.000) Personen (Stand 2017), die entweder nach der Katastrophe die Region nicht verließen oder später in ihre Dörfer zurückkehrten.

Die Umweltorganisation Blacksmith Institute zählte in ihrer 2006, 2007 und 2013 veröffentlichten Liste Tschornobyl jeweils zu den zehn Orten mit der größten Umweltverschmutzung weltweit.[3]

Der Name Tschornobyl oder Tschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник) ist eine ukrainische Bezeichnung der Pflanzenart Beifuß (Artemisia vulgaris).

Geographische Lage[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tschornobyl befindet sich im Rajon Wyschhorod in der Landschaft Polesien 15 Kilometer südwestlich der belarussischen Grenze und 130 km nördlich vom Oblastzentrum Kiew. Die Stadt liegt auf einer Höhe von 140 m am rechten Ufer des Prypjat, einem Nebenfluss des Dnepr. Wenig südlich der Stadt mündet der Usch in den Prypjat. Von Iwankiw kommend führt die Regionalstraße P–56/ Territorialstraße T–25–05 über den Sperrzonen-Kontrollpunkt bei Dytjatky nach Tschornobyl und von hier aus in Richtung Osten auf einer kurzen Strecke als P-35 durch Weißrussland, um nach Überquerung des Dneprs wieder als P–56 nach Tschernihiw zu führen.

Sankt-Elias-Kirche 2013

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Geographische Lexikon des Königreiches Polen von 1880 besagt, dass der Zeitpunkt der Gründung der Stadt nicht bekannt ist.[4] Grabungen im Stadtgebiet in den Jahren 2005 bis 2008 brachten eine Kulturschicht aus dem späten 10. und frühen 11. Jahrhundert hervor.[5] In der Laurentianchronik (Лаврентьевский список) wurde 1127 die Ortschaft Streschiw (Стрежів) als die südlichste Stadt des Fürstentums Polozk erwähnt, von der Historiker glauben, dass sie später in Tschornobyl umbenannt wurde. Die erste schriftliche Erwähnung Tschornobyls im Jahr 1193 stammt aus der Hypatiuschronik.[6]

Die im Fürstentum Kiew gelegene Ortschaft wurde 1362 vom Großfürstentum Litauen erobert. 1552 besaß die Siedlung 196 Häuser und 1372 Einwohner. Es entwickelten sich Handwerksbetriebe wie Schmieden und Böttcherbetriebe. Nahe von Tschornobyl wurde Sumpferz gewonnen, das zu Eisen verhüttet wurde. Nach der Lubliner Union von 1569 zwischen Litauen und dem Königreich Polen fiel Tschornobyl unter die polnische Krone.[7] In den Jahren 1747 und 1751 wurde die Stadt von den Hajdamaken erobert.[8] Zur Verteidigung gegen die Hajdamaken errichtete der damalige Besitzer der Stadt Jan Mikołaj Chodkiewicz eine Burg mit einer Besatzung von 700 Soldaten und 12 Kanonen.[7] Nach der zweiten polnischen Teilung 1793 wurde Tschornobyl zusammen mit der rechtsufrigen Ukraine dem Russischen Kaiserreich einverleibt und lag dort im Ujesd Radomyschl des Gouvernements Kiew.[8] In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs Handwerk und Handel in Tschornobyl rasch an. Es gab Werkstätten von Schneidern, Schuhmachern und Kürschnern. In der Stadt wurden große Messen veranstaltet und Handelsware wie Holz und Teer unter anderem nach Kiew und Krementschuk exportiert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden kleine Unternehmen, darunter eine Leder- und zwei Kerzenfabriken.[7]

Nach dem Ende des Russischen Bürgerkrieges, während dem Tschornobyl sehr stark zerstört wurde[7], gehörte die Ortschaft zur Ukrainischen SSR innerhalb der Sowjetunion. Tschornobyl war seit 1923 Hauptort des gleichnamigen Rajons mit einer Fläche von etwa 2.000 km² und 44.000 Einwohnern (1984).[9] 1941 wurde ihr der Status einer Stadt zuerkannt[10]. Während des Deutsch-Sowjetischen Kriegs war die Stadt zwischen dem 25. August 1941 und dem 16. November 1943 von Truppen der Wehrmacht besetzt.[8] Nach dem Krieg wuchs sie bis 1979 auf 12.458 Einwohner an.[11]

Im nahe gelegenen Kernkraftwerk ereignete sich am 26. April 1986 die schwerste nukleare Havarie in der Geschichte der Nutzung der Kernenergie, was zur Evakuierung der gesamten Bevölkerung der Stadt und des zugehörigen Rajons führte. Letzterer wurde Ende 1988 aufgelöst und dem Rajon Iwankiw zugeschlagen.[12] Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 gehört Tschornobyl zur unabhängigen Ukraine.

Im Jahr 2020 kam es in den verstrahlten Wäldern rund um Tschornobyl, die nach 1986 sich selbst überlassen wurden, zu umfassenden Waldbränden.[13]

Anfang 2022 übte die ukrainische Armee in der Stadt Prypjat nahe Tschornobyl vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Konflikts den Häuserkampf. Es war das erste größere Manöver dort seit der Reaktorkatastrophe.[14]

Am Nachmittag des 24. Februar 2022 nahmen russische Truppen das AKW Tschernobyl und das umliegende Sperrgebiet ein. Ab dem 31. März zogen sich die russischen Truppen aus dem Gebiet zurück.[15]

Holzsynagoge in Tschornobyl 1928
Synagoge 2013

Bevölkerung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Judentum in Tschornobyl[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts lebten Juden in Tschornobyl, die bis zum 19. Jahrhundert zur größten ethnischen Gruppe der Stadt (1897 betrug der Anteil der jüdischen Bürger 60 % der Bevölkerung) anwuchsen. Aufgrund der Pogrome von 1905 und 1919 und der Migration sank der Anteil der jüdischen Bevölkerung bis 1926 auf 40 %. Vom späten 18. Jahrhundert bis 1919 war Tschornobyl der Sitz der von Rabbi Nachum von Tschornobyl (1730–1787) begründeten chassidischen Twersky-Dynastie und ein Zentrum des Chassidismus. Die Gemeinde wurde 1941 von den deutschen Besatzern zerstört.[8]

Bevölkerungsentwicklung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Quellen: 1552, 1790er, 1900[7]; 1880[16]; 1897[17] 1923–1979[11];

Wirtschaft und Industrie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Tschornobyl befanden sich das gewerblich-technische Zentrum der Dnipro-Dampfschifffahrt, eine Eisenhütte, Lebensmittelindustrie und Kunstgewerbe sowie ein Baustoffkombinat.

In der Nähe der Stadt entstand am Prypjatufer seit 1971 das erste Kernkraftwerk der Ukraine. Der erste Block wurde 1977 mit einer Leistung von 1.000 Megawatt in Betrieb genommen; im Jahr 1983 arbeiteten vier Blöcke. Das gesamte Kraftwerk erzeugte zu dieser Zeit 4000 Megawatt und war für den Ausbau bis zu 6000 Megawatt geplant. Auch nach dem Super-GAU (INES: 7[18]) von 1986 arbeiteten die verbleibenden drei Reaktoren bis zur Abschaltung des letzten Blocks im Jahre 2000 weiter.

Zeitweise war die Stadt eine Attraktion für den Katastrophentourismus in der Ukraine.[19][20]

Bildung, Soziales und Kultureinrichtungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tschornobyl beherbergte vier allgemeinbildende Mittelschulen, eine medizinische sowie eine landwirtschaftstechnische Fachschule und eine Musikschule. Ein Krankenhaus und eine Poliklinik sowie ein Kino, ein Schwimmbad und eine Bibliothek waren ebenfalls vorhanden.

Persönlichkeiten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Söhne und Töchter der Stadt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Personen, die vor Ort gewirkt haben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Tschernobyl – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Tschornobyl – Sammlung von Bildern
Wikivoyage: Tschernobyl – Reiseführer
 Wikinews: Tschernobyl – in den Nachrichten

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. „Gott ist in dem, der Kiew rettete“ in Der Spiegel vom 20. April 1987; abgerufen am 24. April 2020
  2. Reise ins Innere von Tschernobyl Tschernobyl-Stadt und Asti (Piemont), in Nuklearia vom 25. April 2018; abgerufen am 24. April 2020
  3. Top Ten Threats 2013.pdf des Blacksmith Institutes
  4. Czarnobyl. In: Filip Sulimierski, Władysław Walewski (Hrsg.): Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowiańskich. Band 1: Aa–Dereneczna. Sulimierskiego und Walewskiego, Warschau 1880, S. 750 (polnisch, edu.pl).; abgerufen am 12. Dezember 2020 (polnisch)
  5. Erforschung der Siedlung Tschornobyl in der Wissenschaftlichen elektronischen Zeitschriftenbibliothek der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine; abgerufen am 12. Dezember 2020 (ukrainisch)
  6. Wussten Sie, dass Tschernobyl eine der ältesten Städte in der Kiewer Rus ist, die über 820 Jahre alt ist? auf der Website der Staatlichen Agentur der Ukraine für Sperrzonenmanagement; abgerufen am 12. Dezember 2020 (ukrainisch)
  7. a b c d e Stadtgeschichte Tschornobyl in der Geschichte der Städte und Dörfer der Ukrainischen SSR; abgerufen am 14. April 2020 (ukrainisch)
  8. a b c d Eintrag zu Tschornobyl in der Enzyklopädie der Geschichte der Ukraine; abgerufen am 19. April 2020 (ukrainisch)
  9. Eintrag zum Rajon Tschornobyl in der Ukrainischen Sowjetenzyklopädie; abgerufen am 19. April 2020 (ukrainisch)
  10. Eintrag zur Stadt Tschornobyl in der Ukrainischen Sowjetenzyklopädie; abgerufen am 19. April 2020 (ukrainisch)
  11. a b Städte und Siedlungen in der Ukraine auf pop-stat.mashke.org; abgerufen am 14. April 2020
  12. Указ Президії Верховної Ради Української РСР; Постанова від 16.11.1988 № 6860-XI Про об'єднання Іванківського і Чорнобильського районів Київської області; abgerufen am 14. April 2020
  13. Zeit online: Brände in Tschernobyl: Wenn radioaktive Wälder brennen. Abgerufen am 24. April 2020.
  14. Häuserkampf in Geisterstadt: Ukrainisches Militär übt in Tschernobyl. In: Der Spiegel. 5. Februar 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 5. Februar 2022]).
  15. Ukraine-Krieg: „Erhebliche Strahlendosen“ – Russische Truppen verlassen Tschernobyl - WELT. 31. März 2022, abgerufen am 4. Januar 2024.
  16. http://www.hroniky.com/news/view/12789-inshyi-chornobyl-ievrei-mahnaty-i-zamok
  17. https://datatowel.in.ua/pop-composition/religion-rb-settlements-1897
  18. M. V. Malko: The Chernobyl Reactor: Design Features and Reasons for Accident. (PDF)
  19. Tschernobyl-Tourismus Stippvisite in der Schaltzentrale des Schreckens in Der Spiegel vom 10. Oktober 2019; abgerufen am 26. April 2020
  20. In Tschernobyl boomt der Katastrophen-Tourismus in Welt vom 18. April 2011; abgerufen am 26. April 2020