Commission gouvernementale de Sigmaringen – Wikipedia

Schloss Sigmaringen (2015)

Die Commission gouvernementale de Sigmaringen (deutsch: Regierungskommission Sigmaringen), zunächst auch als Délégation gouvernementale française pour la défense des intérêts français en Allemagne (Französische Regierungsdelegation für die Verteidigung der französischen Interessen in Deutschland) und später als Commission gouvernementale française pour la défense des intérêts nationaux (Französische Regierungskommission für die Verteidigung der nationalen Interessen) bezeichnet, bestand von 6. September 1944 bis 22. April 1945.[1] Sie war die Exilregierung des Vichy-Regimes, die von den deutschen Behörden in einer eigens von Hitler beschlossenen und geschaffenen französischen Enklave innerhalb des Reiches im ehemaligen Schloss der Hohenzollern-Sigmaringen in Sigmaringen im Südwesten Deutschlands installiert wurde, wo sich die letzten Vertreter der französischen Kollaboration mit dem NS-Regime versammelten.

Vorgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten auf dem französischen Festland und stießen nun von allen Seiten auf das Deutsche Reich vor. Am 17. August 1944 hielt Premier- und Außenminister Pierre Laval eine letzte Ministerversammlung mit fünf verbliebenen Ministern ab.[2] Er versuchte, die alte Nationalversammlung[3] mit Zustimmung der Deutschen zu versammeln, um die Macht an ihn zu übergeben und so den Kommunisten und de Gaulle den Weg zu versperren[4]. Zu diesem Zweck holte er die Zustimmung des deutschen Botschafters Otto Abetz ein, um Édouard Herriot (Präsident des Abgeordnetenhauses) nach Paris zu holen. Die Ultra-Kollaborateure Marcel Déat und Fernand de Brinon protestierten jedoch bei den Deutschen[5], die daraufhin ihre Meinung änderten: Sie brachten Laval sowie Reste seiner Regierung „zur Gewährleistung seiner legitimen Sicherheit“[6] nach Belfort[7] und verhafteten Édouard Herriot[8].

Am selben Tag (dem 17. August 1944) forderte der deutsche diplomatische Sonderbeauftragte Cecil von Renthe-Fink in Vichy Pétain auf, in die Nordzone zu gehen, doch Pétain lehnte dies ab und verlangte eine schriftliche Ausfertigung dieser Forderung. Diese erhielt er am 19. August: „Die Reichsregierung gibt die Anweisung, die Verlegung des Staatschefs auch gegen seinen Willen vorzunehmen.“[9][10] Nachdem er den Schweizer Botschafter Walter Stucki als Zeugen für diese Erpressung herangezogen hatte, unterwarf sich Pétain.

Am 20. August 1944 wurde Pétain gegen seinen Willen[11] auf Schloss Morvillars verbracht[12]; er und Laval legten aus Protest ihre Ämter nieder.[13][14]

Commission gouvernementale de Sigmaringen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fernand de Brinon (1885–1947)

Am 6. September 1944 wurde eine Regierungskommission unter der Leitung von Fernand de Brinon ausgerufen.[15] Angesichts des alliierten Vormarsches wurden Pétain und Laval, gefolgt von einem Teil des Vichy-Regimes, am 7. September 1944 zum Schloss Sigmaringen gebracht, wo sie am 8. September 1944 ankamen.[16] Etwa 1000 Mitarbeiter des Vichy-Regimes und einige hundert Mitglieder der französischen Miliz bildeten in der deutschen Stadt eine französische Enklave.

Die Regierungskommission hielt mit Fahnen, Musikkapellen, Radios, Zeitungen und Briefmarken bis April 1945 die Illusion einer Regierung und eines Staates aufrecht. Pétain forderte die Deutschen auf, die auf dem Schloss gehisste französische Flagge zu entfernen.[17] Pétain weigerte sich, sein Amt auszuüben und sich an den Aktivitäten der Regierungskommission unter dem Vorsitz von Fernand de Brinon zu beteiligen. Er zog sich in seine Gemächer im Schloss zurück, während er seine zukünftige Verteidigung vorbereitete. Trotz der Bemühungen der Kollaborateure und der Deutschen erkannte Pétain die Sigmaringer Kommission nie an.

Als Mitglieder der Commission fungierten:[18]

Aktivitäten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jean Luchaire, der Kommissar für Information, gründete am 26. Oktober 1944 die Tageszeitung La France, die sich an die Leserschaft der Exilanten richtete und bis zum 13. März 1945 erschien.[19] Diese Publikation wurde von der Commission als offizielle Zeitung verwendet.

Während Darnand und Bridoux sich kaum an der Commission beteiligten, erließ Déat als Minister mehrere Dekrete, bildete ein größeres Kabinett und übernahm die Verantwortung für den Service du travail obligatoire, den Pflichtarbeitsdienst für französische Gefangene.[20] Der Kollaborateur Jacques Doriot gründete im Januar 1945 ein „Komitee für die französische Befreiung“, wurde aber kurze Zeit später bei einem Fliegerangriff getötet.[21][22]

Die Kommission verfügte über einen eigenen Radiosender (Radio-patrie, Ici la France) und eine offizielle Presse (La France, Le Petit Parisien) und beherbergte die Botschaften der Achsenmächte: Deutschland, Italien und Japan. In der Enklave lebten etwa 6000 Menschen, darunter bekannte kollaborierende Journalisten, Schriftsteller und ihre Familien, sowie 500 Soldaten, 700 französische SS-Leute, Kriegsgefangene und französische zivile Zwangsarbeiter.

Das Ende[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schloss Zeil

Ab Februar 1945 begannen die Absetzbewegungen der Kollaborateure, nachdem sich der Vormarsch General de Lattres beschleunigt hatte.[23] Am 21. April 1945 stand das 1. französische Armeekorps unter General Béthouart in Donaueschingen, 60 Kilometer westlich von Sigmaringen.[24][25] Pétain, seine Frau und sein engster Kreis wurden nun zunächst nach Wangen und danach auf das Schloss Zeil bei Leutkirch im Allgäu evakuiert. Als Zeil von alliierten Bombern angegriffen wurde, gab Pétain auf und weigerte sich, einer weiteren Evakuierung innerhalb des Reichs zuzustimmen.[26] Stattdessen ließ er sich mit Zustimmung der dortigen Behörden in die Schweiz bringen.[27] Dort bat er die Regierung, ihn an Frankreich zu übergeben, was am 26. April 1945 geschah.[28] Lavals Asylantrag wurde von der Schweiz abgelehnt; er ging nach Spanien ins Exil.

Am 22. April nahmen die Truppen der Provisorischen Regierung der Französischen Republik Sigmaringen ohne größeren Widerstand ein und beendeten die Existenz der Commission gouvernementale de Sigmaringen.[29]

Drei der fünf Regierungsmitglieder wurden verhaftet und erschossen:

  • Fernand de Brinon flüchtete in ein Hotel in der Nähe von Innsbruck. Er wurde von amerikanischen Truppen festgenommen, den französischen Behörden übergeben und im Mai 1945 nach Paris gebracht. Im März 1947 wurde er zum Tode verurteilt und am 7. April im Gefängnis von Fresnes hingerichtet, da seine Begnadigung vom neu gewählten Präsidenten der Republik, Vincent Auriol, abgelehnt worden war.[30]
  • Jean Luchaire, der nach Meran in den italienischen Alpen geflohen war, stellte sich während der Besetzung der Stadt der amerikanischen Militärpolizei, wurde aber auf freiem Fuß belassen. Er wurde etwas später von französischen Agenten der amerikanischen Militärsicherheit identifiziert. Daraufhin wurde er anderthalb Monate lang in Mailand inhaftiert und im Juli 1945 nach Frankreich ebenfalls in das Gefängnis von Fresnes überführt. Nachdem er versucht hatte, seinen Prozess zu verzögern, wurde er am 23. Januar 1946 zum Tode verurteilt und am 22. Februar 1946 im Fort de Montrouge erschossen, da seine Begnadigung abgelehnt worden war.[31]
  • Joseph Darnand wurde am 3. Oktober 1945 zum Tode verurteilt und am 10. Oktober 1945 im Fort de Châtillon erschossen. Er hatte an General de Gaulle geschrieben und nicht um seine Begnadigung, sondern um die seiner Milizmänner gebeten.[32]

Zwei Personen konnten entkommen und starben im Exil:

  • Eugène Bridoux wurde im Mai 1945 von den amerikanischen Truppen festgenommen. Er wurde nach Frankreich zurückgebracht und im Fort de Montrouge interniert. Als er aus gesundheitlichen Gründen in das Krankenhaus Val-de-Grâce in Paris verlegt wurde, konnte er von dort fliehen und setzte sich nach Spanien ab, wo er 1955 starb. Er war 1948 vom Hohen Gerichtshof zum Tode verurteilt worden.[33]
  • Marcel Déat versteckte sich mit Hilfe italienischer Geistlicher mit seiner Frau in den italienischen Bergen, dann in Genua und schließlich in Turin, wo er 1955 starb. Er war im Juni 1945 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden.[34]

Weitere Personen, die im Sigmaringer Exil lebten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lucette Destouches, François Gibault und Maroussia Klimova 1995
  • Victor Barthélemy (1906–1985), Politiker, späterer Funktionär des Front National
  • Maud de Belleroche (1922–2017), Schriftstellerin und Schauspielerin
  • Jean Bichelonne (1904–1944), Politiker des Vichy-Regimes
  • Abel Bonnard (1883–1968), Schriftsteller
  • Louis-Ferdinand Céline (1894–1961), Schriftsteller (der dort seinen Roman D'un château l'autre, dt. Von einem Schloss zum andern schrieb)
  • Lucette Destouches (1912–2019), Tänzerin und Ehefrau von Céline
  • Roland Gaucher (1919–2007), Journalist und Schriftsteller
  • Jacques de Lesdain (1880–1976), Journalist, 1950 in Abwesenheit zum Tode verurteilt
  • Robert Le Vigan (1900–1972), Schauspieler
  • Corinne Luchaire (1921–1950), Schauspielerin, Tochter von Jean Luchaire
  • Bernard Ménétrel (1906–1947), Arzt Pétains
  • Georges Oltramare (1896–1960), Schweizer Politiker; 1950 in Abwesenheit in Frankreich zum Tode verurteilt
  • Lucien Rebatet (1903–1972), Journalist und Schriftsteller
  • Simon Sabiani (1888–1956), Politiker und Geschäftsmann

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Robert Aron: Grands dossiers de l'histoire contemporaine. éd. Librairie académique Perrin, Paris 1964.
  • Pierre Assouline: Sigmaringen. Gallimard, Paris 2014, ISBN 2-07-013885-2.
  • André Brissaud und Robert Aron (Vorwort): La Dernière année de Vichy (1943-1944). Librairie Académique Perrin, Paris 1965, B0014YAW8Q.
  • Louis-Ferdinand Céline: D'un château l'autre. Gallimard, Paris 1957, ISBN 2-07-021310-2.
  • Jean-Paul Cointet: Sigmaringen: une France en Allemagne, septembre 1944-avril 1945. Perrin, Paris 2017, ISBN 978-2-262-03300-2.
  • Eberhard Jäckel: Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. DVA, 1996, ISSN 0481-3545.
  • André Kaspi (mit Anne Grynberg, Catherine Nicault, Ralph Schor und Annette Wieviorka): La Libération de la France: juin 1944–janvier 1946. Librairie académique Perrin, Paris 2008, ISBN 978-2-7382-2368-5.
  • Clemens Klünemann: Sigmaringen: eine andere deutsch-französische Geschichte. MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 2019, ISBN 978-3-95757-783-2.
  • Fred Kupferman und Henry Rousso (Vorwort): Laval. Tallandier, Paris 2006, ISBN 978-2-84734-254-3.
  • Dominique Lormier: Koenig, l'homme de Bir Hakeim. éd du Toucan, Paris 2012, ISBN 978-2-8100-0490-4.
  • Herbert Lottman: Pétain. Éditions du Seuil, Paris 1984, ISBN 978-2-02-006763-8.
  • Robert Paxton und Stanley Hoffmann (Vorwort): La France de Vichy – 1940-1944. Éditions du Seuil, Paris 1997, ISBN 978-2-02-039210-5.
  • Philippe Randa: Dictionnaire commenté de la collaboration française. Jean Picollec, Paris 1990.
  • Henry Rousso: Pétain et la fin de la collaboration. Éditions Complexe, Paris 1999, ISBN 978-2-87027-138-4.
  • Henry Rousso: Un château en Allemagne: Sigmaringen, 1944-1945. Paris 2012, ISBN 978-2-8185-0230-3.

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Sigmaringen, Le dernier refuge; Regie Serge Moati, Arte France 2015
    • deutsch: Sigmaringen, Hauptstadt Frankreichs[35]
  • Sigmaringen, l'ultime trahison, Dokumentarfilm von Rachel Kahn und Laurent Perrin, 1996, 56 min (VHS)[36]
  • Die Finsternis; Regie Thomas Tielsch, 2005, nach dem Roman von Céline[37]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Rousso, Pétain S. 120
  2. Brissaud, S. 505–505; die Minister waren Jean Bichelonne, Abel Bonnard, Maurice Gabolde, Raymond Grasset und Paul Marion.
  3. Paxton S. 382–383
  4. Kupferman S. 520–525
  5. Brissaud S. 491–492
  6. pour assurer sa sécurité légitime
  7. Jäckel S. 495
  8. Kupferman S. 527–529
  9. Le gouvernement du Reich donne instruction d’opérer le transfert du chef de l’État, même contre sa volonté
  10. Aron S. 41–42
  11. Chemins de Memoire. In: Ministre des Armés. Abgerufen am 4. Februar 2023 (französisch).
  12. Rousso, Pétain, S. 78
  13. Aron, S. 41–45
  14. Jäckel, S. 498–499; Zitat: „Der Marschall legte Wert darauf, dass diese Szene möglichst viel Öffentlichkeit erhielt und den Charakter einer gewaltsamen Festnahme hatte. Andererseits wollte er Blutvergießen vermeiden. Deshalb wurde Neubronn noch in der Nacht durch den Schweizer Minister Walter Stucki darüber informiert, was die Deutschen am nächsten Morgen zu erwarten hätten. Die Ausgänge des Hôtel du Parc würden verriegelt und verbarrikadiert sein, aber die Garde des Marschalls würde keinen Widerstand leisten; die Deutschen wurden aufgefordert, sich mit dem nötigen Werkzeug auszurüsten, um die Türen und Gitter aufzubrechen. Dies geschah. […]“
  15. Aron, S. 40–45
  16. Aron, S. 41–45
  17. Aron, S. 40–45
  18. Rousso, Pétain, S. 51–59
  19. Randa, S. 518
  20. Rousso, Pétain, S. 127
  21. siehe auch: fr:Opération Maquis blanc
  22. Rousso, Pétain, S. 279
  23. Kupferman, S. 549–552
  24. Rousso, Pétain, S. 158
  25. Kaspi, S. 156–158
  26. Lottman, S. 534–540
  27. Lormier, S. 358
  28. Aron, S. 48–49
  29. Kaspi, S. 156–158
  30. Cointet, S. 426
  31. Cointet, S. 417 und 427
  32. Cointet, S. 427
  33. Cointet, S. 433
  34. Cointet, S. 433
  35. Commission gouvernementale de Sigmaringen bei IMDb
  36. Emmanuèle Peyret: «Les dossiers de l'histoire»: «Sigmaringen, l'ultime trahison», documentaire. Voyage au bout de la collaboration. L'agonie de «L'Etat français» pétainiste dans une forteresse allemande. In: Liberation.fr. Abgerufen am 4. Februar 2023 (französisch).
  37. Commission gouvernementale de Sigmaringen bei IMDb