Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Wikipedia

Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost von 1990

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen wurde von den Sprechern der Vertriebenenverbände bzw. ostdeutschen Landsmannschaften am 5. August 1950 unterzeichnet und am folgenden Tag in einer Massenkundgebung in Stuttgart-Bad Cannstatt verkündet.[1] Sie nennt „Pflichten und Rechte“ der Flüchtlinge und Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1949 die deutschen Ostgebiete und andere Länder Ost- und Südosteuropas verlassen mussten. Unter diesen Rechten und Pflichten wird vor allem der Verzicht auf Rache und Vergeltung für die Vertreibung verstanden, das Schaffen eines geeinten Europas und die Beteiligung am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Darüber hinaus wird ein „Recht auf Heimat“ postuliert, das ein von „Gott geschenktes Grundrecht der Menschheit“ sei, und seine Verwirklichung gefordert.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gedenktafel am Kleinen Kursaal in Stuttgart-Bad Cannstatt
Vertriebenendenkmal im Kurpark Bad Cannstatt; an den Bodenplatten ist der Text der Charta angebracht.
Die Charta am Ehrenmal beim Germanengrab in Itzehoe

Infolge der Aufweichung des Koalitionsverbots der Alliierten für Vertriebene gründeten diese viele eigene Vereine, die sich zu Landesverbänden und schließlich im April 1949 auch zu einem Zentralverband vertriebener Deutscher zusammenschlossen. Zu dieser Zeit stellten Flüchtlinge und Vertriebene 16,5 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Organisationen hatten politisch eine Sonderrolle in Deutschland und einigten sich nach einigen Monaten auf die Formulierung dieser „Charta“. Zwei Jahre später, im November 1951, bildete der Zentralverband zusammen mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und Schlesier den Bund der Vertriebenen (BdV), der die Charta unverändert übernahm.[2] Die Charta ist bis heute die „Wertegrundlage“ des BdV.[3]

Einen Tag vor Unterzeichnung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen legten im Wiesbadener Abkommen der Tschechische Nationalausschuss von im Londoner Exil lebenden Tschechen und die „Münchener Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen“ ein Versöhnungsdokument vor, das eine Kollektivschuld und wie die Charta Rachegedanken von beiden Seiten ablehnte, gleichzeitig aber eine Bestrafung der Hauptverantwortlichen forderte.

Forderung nach einem Recht auf die Heimat[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Charta postuliert ein „Recht auf die Heimat“ und begründet es auf einer theologischen Basis. Sie führt aus: „Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“[4]

Proklamierte Rechte der Vertriebenen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben der Forderung nach einem „Recht auf die Heimat“ und „solange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist“ enthält die Charta weitere substantielle Forderungen der Vertriebenen, nämlich das gleiche Staatsbürgerrecht vor dem Gesetz und im Alltag, die gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des Krieges auf die ganze Bevölkerung, die Forderung nach der Eingliederung der Berufsgruppen der Vertriebenen und ihre Beteiligung am Wiederaufbau Europas. Diese Forderungen wurden erfüllt, so durch das Lastenausgleichsgesetz von 1952 und das Bundesvertriebenengesetz von 1953.

Außenwahrnehmung und Debatte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von bundesdeutschen Politikern wurde immer wieder der historische Beitrag der Vertriebenencharta zur Aussöhnung hervorgehoben. So betonte aus Anlass des 50. Jahrestages der Charta der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die „weitreichende Bedeutung“ der Charta, „weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete.“[5] Wolfgang Schäuble äußerte sich anlässlich der Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum 65. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen am 27. August 2006 in Stuttgart folgendermaßen: „[Die] Charta war damals und ist heute noch ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität.“[6]

Micha Brumlik kritisierte, dass im Satz der Charta, „die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden,“ behauptet werde, dass die Heimatvertriebenen am schwersten betroffen gewesen seien, noch vor den ermordeten Juden, noch vor den Verfolgten in Polen und Russland und noch vor den deutschen Kriegswaisen und -witwen.[7] Auch Ralph Giordano befand, die Charta blende die Vorgeschichte der Vertreibung aus und erwähne nur die nach 1945 vertriebenen Deutschen.[8] Brumlik befand sogar, dass in der Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalsozialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Ausdruck kommen“.[9] Dass die Charta in ihrer Eröffnungssequenz scheinbar großzügig auf Rache und Vergeltung „verzichte“, sei eine Ungeheuerlichkeit. Verzichten könne man nämlich nur auf das, was einem rechtens zustehe. Die Charta postuliere einen grundsätzlichen Anspruch auf Rache und Vergeltung.[10] Des Weiteren betont Brumlik, dass etwa ein Drittel der Erstunterzeichner der Charta überzeugte Nationalsozialisten gewesen seien. Bei diesen handele es sich vor allem um Funktionäre, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im so genannten Volkstumskampf tätig gewesen seien.[11]

Brumlik weist darauf hin, dass der Bund der Vertriebenen seine Anliegen inzwischen anders vorträgt. Die These der Charta von der Singularität deutschen Leids hat er inzwischen preisgegeben, ein Verdienst Erika Steinbachs. Inzwischen hätten auch die Menschenrechte, die die Charta nicht erwähne, Eingang in das Selbstverständnis der Vertriebenenverbände gefunden, so in der Satzung des Zentrums gegen Vertreibungen. Die Charta stelle dagegen noch „eine im Geist von […] Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, völkisch-politische Gründungsurkunde dar, in der nichts weniger als die Absicht beglaubigt wird, die Politik der jungen Bundesrepublik in Geiselhaft zu nehmen.“ Glaubwürdig wäre dieser Gesinnungswandel aber erst nach einer förmlichen Aufhebung der Charta, die heute noch in Kraft und das „Grundgesetz“ der Vertriebenenverbände sei.[12]

Das „Recht auf die Heimat“ ist eine Wortschöpfung, die von französischen, belgischen und griechischen Völkerrechtlern bereits vor dem Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Recht auf die Heimat vor allem durch die deutschen Völkerrechtler Kurl Rabl, Rudolf Laun, Otto Kimminich und Dieter Blumenwitz propagiert, auch vom österreichischen Völkerrechtler Felix Ermacora und vom amerikanischen Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas im Zusammenhang mit den „ethnischen Säuberungen“ in Jugoslawien erläutert.

In der politischen Auseinandersetzung des Kalten Krieges wurde die Proklamation eines Heimatrechtes durch die organisierten Vertriebenen und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Rückgabe der Heimatgebiete der Vertriebenen von deren politischen Gegnern als „Revanchismus“ interpretiert. Nachdem dies anfangs vor allem die Sichtweise der Staaten war, auf die sich die Gebietsansprüche der Vertriebenenverbände bezogen, wurde die Agitation der Vertriebenenverbände gegen die deutsche Ostpolitik ab Ende der 1960er Jahre auch in der politischen Linken Westdeutschlands zunehmend so verstanden. „Revanchismus“ wurde so auch im Westen zum politischen Schlagwort.

Die Unterzeichner der Charta[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Christopher Dowe: Mythos und Wirklichkeit Die 1950 in Stuttgart verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen. In: Schwäbische Heimat. Bd. 61 (2010), Nr. 4, S. 418–425 (https://doi.org/10.53458/sh.v61i4.3091).
  • Kurt Nelhiebel: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ursprung und Rezeption eines Dokuments. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 58, 2010, S. 730–743.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Entstehung und Bedeutung der Charta (Memento vom 21. Januar 2012 im Internet Archive) (Bund der Vertriebenen) Der Text der Charta findet sich bei: https://www.bund-der-vertriebenen.de/charta-auf-deutsch
  2. Helga Hirsch: Kollektive Erinnerung im Wandel, Bundeszentrale für politische Bildung, 2003 (Memento vom 23. November 2005 im Internet Archive)
  3. Festakt 50 Jahre Bund der Vertriebenen am 22. Oktober 2007 im Kronprinzenpalais Berlin Rede der Präsidentin Erika Steinbach
  4. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950
  5. Alexander Loesch: Alexander Loesch: Heimatvertriebene: Die Charta der Organisation ist 50 Jahre alt. In: Tagesspiegel. 17. August 2000 (Online).
  6. Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum 65. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen am 27. August 2006 in Stuttgart (Memento vom 30. April 2009 im Internet Archive)
  7. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000, ISBN 3-351-02580-7, S. 98
  8. Ralph Giordano: Ostpreußen ade, München, 5. Auflage 1999, ISBN 3-423-30566-5, S. 105 ff.
  9. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000, S. 92
  10. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000, S. 95
  11. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000 S. 100–105
  12. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000, S. 99, 100, 108
  13. https://agso.uni-graz.at/archive/sozio/biografien/l/leibbrandt_gottlieb.htm In Kanada gebärdete er sich Mitte der 1970er als Historiker für Deutsch-Kanadisches.